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Anna Seghers

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* 19.11.1900 Mainz
† 01.06.1983 Ostberlin

deutsche Erzählerin

Anna Seghers hat während ihres von persönlichen und historischen Erschütterungen geprägten langen Lebens an dem Grundsatz festgehalten, daß die Wirklichkeit danach verlange, reflektiert zu werden - und die Kunst danach, die Realität zu reflektieren. Sie hat danach gearbeitet bis zuletzt: um für die Erfahrungen dieser Epoche eine angemessene Kunst zu gewinnen. Aber gilt auch für ihre Arbeiten, was nach Theodor W. Adorno Qualitätsmerkmal des modernen Kunstwerks sei: die Lust an der Dissonanz und dem Losgelassenen?

Zur Beantwortung dieser Frage liefern vor allem ihre Erzählungen reiches Material, von den frühen wie Die Toten auf der Insel Djal (1924) und Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928) über die Exilerzählungen vom Räuber Woynok (1938) und Der Ausflug der toten Mädchen (1946), die Nachkriegsgeschichten wie Das Argonautenschiff (1949) bis zu den ganz späten Drei Frauen aus Haiti (1980). Obwohl es in erster Linie die Romane der Exilzeit waren – Das siebte Kreuz (1942), und in heutiger Sicht zunehmend auch Transit (1947) –, die Anna Seghers in der Tradition der klassischen (oder in ihrem Falle: mimetischen) Moderne etabliert haben, so hat sie doch stets auch der kürzeren Erzählung (oder: Novelle) und ihrem ästhetischen Verweisungssystem hohe Wertschätzung entgegengebracht.

Das am 19. 11. 1900 im Hause des Kunsthändlers Isidor Reiling und seiner Frau Hedwig geborene Mädchen erhielt den Namen Netty. Die Familie bekennt sich zur orthodoxen Israelitischen Religionsgemeinschaft . Mutter Hedwig war noch durch einen jüdischen Heiratsvermittler mit ihrem Mann verbunden worden; Tochter Netty wird ihren Bräutigam 25 Jahre später selbst wählen (können) und gegen den Widerstand der Familie durchsetzen (müssen). Denn gewiss wird der fürstliche Hoflieferant Isidor Reiling den ungarischen (und kommunistischen) Emigranten Laszlo Radvanyi nicht mit offenen Armen empfangen haben. Netty Reiling hatte auf väterlichen Rat in Heidelberg Kunstgeschichte studiert (und promoviert), doch die Zeitereignisse führten das junge Paar bald in die Metropole Berlin, Schnittpunkt aller künstlerischen und politischen Entwicklungen. Unter dem Pseudonym "A. Seghers" hatte die junge Autorin erstaunlichen Erfolg, der durch den Machtantritt Hitlers jedoch jäh unterbrochen wurde. Während die Eltern Opfer der Nazi-Gewalt wurden, war die Tochter bereits 1933 – wie etwa auch Heinrich Mann – nach Frankreich emigriert. Als Kommunistin und Jüdin war sie doppelt gefährdet.

Nach der Rückkehr aus dem mexikanischen Exil (1947), wo Anna Seghers in einem Kreis von literarisch-politischen Freunden lebte und produktiv war, hoffte sie auf Resonanz in allen Besatzungszonen und lebte zunächst im US-Sektor von Berlin. Tatsächlich erscheinen etwa vom Siebten Kreuz in rascher Folge verschiedene Ausgaben in München, Berlin, Amsterdam und Zürich. Doch der Kalte Krieg verändert die Verhältnisse. Ende 1950 bezieht sie eine Wohnung in Adlershof, DDR. Dort wird sie 1952 Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der DDR (bis 1978). Eine bislang kontrovers beantwortete Frage ist, wie sich die Realität des Kalten Krieges in ihren Büchern (und in ihrer Rezeption) nach der Rückkehr widerspiegelt. Darf man, wie Marcel Reich-Ranicki, Das siebte Kreuz als antitotalitäres Werk verherrlichen und vorschnell gegen den in der DDR geschriebenen Roman Die Entscheidung (1959) ausspielen? Oder gilt Hans Mayers behutsame Abwägung über die "Macht" und "Kraft" der Schriftstellerin: "Hat sie diese Kraft eingebüßt, als sie für die Macht schrieb, die nunmehr nur noch im eigenen Namen agierte, nicht mehr im Namen der Schwachen? Das wurde oft behauptet...Wer über Anna Seghers urteilen möchte, muß sie als Ganzheit nehmen, oder als Ganzheit verwerfen." – Zu den wesentlichen Konstanten im Weltbild und Werk der Schriftstellerin gehört jedenfalls die Einsicht, daß die bisherige Geschichte eine der Gewalt ist: dies (und das Mitgefühl mit den Opfern) ist all ihren Erzählungen und Romanen eingeschrieben. Zugleich aber weiß sie von der Notwendigkeit, den Widerstand der Unterdrückten, die "Kraft der Schwachen" als Bedingung für ihr Menschsein darzustellen und damit ihren historischen Sinn zu entwickeln.

©MBi

Wichtige Schriften

  • Anna Seghers: Werkausgabe in 21 Bdn., Berlin u.a. 200..ff. [im Erscheinen].
  • Anna Seghers: Werke in Einzelausgaben (TB), Berlin 1993ff.

Sekundärliteratur

  • K. Batt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werk, Leipzig 1973.
  • F. Wagner / U. Emmerich / R. Radvanyi (Hg.): Anna Seghers. Eine Biographie in Bildern. Mit einem Essay von Christa Wolf, Berlin 1994.
  • C. Zehl Romero: Anna Seghers. Ein Biographie, 2 Bde., Berlin 2000, 2002.