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Seit über einhundertfünfzig Jahren ist der Kriminalroman eines der produktivsten Prosagenre. Wegen seiner hohen handwerklichen Anforderungen und der philosophischen Implikationen hat er Bewunderer aus unterschiedlichsten Lagern gefunden. Allerdings muß zunächst eine terminologische Unterscheidung getroffen werden: Der Typ, den man im allgemeinen als Kriminalroman oder 'Krimi' bezeichnet, wird in seinen vielfältigen Varianten (die an Schauer- und Abenteuerroman, Agenten- und Spionagethriller angrenzen) häufig der Trivialliteratur zugeschlagen. Es ist die Sonderform der Detektivgeschichte, bald erweitert zum Detektivroman, die Beifall und Interesse auf sich gezogen hat. Inhaltlich steht bei beiden Typen ein Verbrechen, meist ein Mordfall, im Mittelpunkt. Wo der Kriminalroman die Entstehung des Verbrechens in seiner chronologischen Abfolge darstellt, geht es der Detektivgeschichte darum, ausgehend von einer bereits geschehenen Tat ihren Hergang in aufklärerischer Absicht zu rekonstruieren. Beide Formen können mit spezifischen Leistungen aufwarten. Der Kriminalroman vermag beispielsweise ein großes gesellschaftliches Panorama oder tief ausgearbeitete psychologische Tätercharaktere darzustellen, während die Detektivgeschichte stärker auf die intellektuelle Leistung des Detektivs (und des Lesers!) abzielt. - Diese begriffliche Unterscheidung wird allerdings durch den alltäglichen Sprachgebrauch verdeckt, in dem sich der "Krimi" als Sammelbegriff durchgesetzt hat.

Als die wichtigsten und nahezu unveränderlichen Strukturelemente der Detektivgeschichte können Täter, (Mord-)Opfer und Detektiv angesehen werden. Mit Hilfe von Zeugen und Indizien gelingt die Aufklärung des Verbrechens und mit ihr häufig die Lösung eines Rätsels. Daß ausgehend von diesem vorgegebenen Schema unzählige Variationen möglich sind, machte für Bertolt Brecht das besondere intellektuelle Vergnügen an diesem Genre aus.

Literaturhistorisch gesehen ist die Detektivgeschichte ein Kind der Romantik - auch wenn man in viel weiter zurückliegenden Texten bereits ähnliche Strukturen erkennen kann. Schon in Sophokles´ König Ödipus (5. Jh. v.Chr.) wird ein Vatermord aufgeklärt. Nur folgt 'Detektiv' Ödipus mythischen Handlungsmustern und noch nicht den Gesetzen der reinen Vernunft. Das hingegen ist der Fall in Edgar Allan Poes Erzählung Der Doppelmord in der Rue Morgue (1841), die als Geburtsurkunde der Detektivgeschichte in der uns heute bekannten Form gilt. Im deutschen Sprachraum sind Friedrich Schillers Fragment Der Geisterseher (1789) und vor allem E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scudéri (1819) als Vorläufer der klassischen Detektivgeschichte anzusehen. Als Stoffgrundlage vieler zeitgenössischer, in einem weiten Sinne kriminalistischer Erzählungen diente die Sammlung berühmter Kriminalfälle, die der französische Rechtsgelehrte François Gayot de Pitaval in zwanzig Bänden angelegt hatte (Causes célèbres et intéressantes, 1734-43).

Weite Verbreitung fand die an Poe orientierte Detektivgeschichte, der es auf die analytischen Fähigkeiten ihres ermittelnden Helden ankommt, in Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes - Erzählungen. Hier geht der Detektiv - wie bei Poes Auguste Dupin bereits angelegt - in Serie. Holmes werden u.a. Agatha Christies Hercule Poirot, Georges Simenons Kommissar Maigret oder Raymond Chandlers Philip Marlowe nachfolgen. Die seriellen Produkte, die erst als Fortsetzungsroman im Feuilleton, später in Heftform erschienen (z.B. Jerry Cotton), sind bis heute mindestens genauso erfolgreich wie die 'hochliterarischen'. Durch Regionalisierung der Schauplätze (etwa Berliner Stadtbezirks- oder Ruhrgebietsromane) haben sie es gerade in jüngster Zeit verstanden, einen engen Kontakt zu einem speziellen Leserkreis aufzubauen.

Der im 19. Jahrhundert weitverbreitete Fortschrittsglaube und das Vertrauen in naturwissenschaftliche Rationalität schlägt sich im Detektivroman in zahlreichen gelösten Fällen nieder. Dem 20. Jahrhundert geht vor dem Erfahrungshintergrund der Modernisierung diese Zuversicht immer mehr abhanden. Mit der Entwicklung der Großstadt erhöht sich die 'Unübersichtlichkeit der Welt', was auch die Verbrechensaufklärung enorm erschwert. Die amerikanische hard-boiled-school (u.a. Dashiell Hammett) reagierte in den dreißiger Jahren mit sehr viel 'lebensnäheren' Romanen, die den Detektiv nicht mehr als feinsinnigen Analytiker vorstellen, sondern als einen mit den harten Lebens-, Sprach- und Trinkgewohnheiten der Unterwelt bestens vertrauten Tatmenschen.

Doch auch aus anderen Gründen ging dem 20. Jahrhundert der Optimismus in die rationale Erkennbarkeit der Welt zunehmend verloren. In den Mafia-Romanen des Italieners Leonardo Sciascia ist die Verwicklung von staatlichen, mit der Aufklärung betrauten Institutionen und Personen in die Verbrechen so weit fortgeschritten, daß ihr der Detektiv unterliegt.
Gerade in den letzten Jahrzehnten hat die Detektivgeschichte aufs neue ihre Attraktivität für den Gegenwartsroman erwiesen. Zwar tritt sie selten in ihrer Reinform auf. Doch überall begegnen einzelne Versatzstücke wie das (Mord)Rätsel, die spannungsgeladene Verbrechensaufklärung, die Problematik von Schuld oder die mit der Erinnerungsthematik verknüpfte Rekonstruktion von Tathergängen. Nach den Experimenten der avantgardistischen 1960er und 1970er Jahren und ihrem gebremsten Erzählen könnte man seit den 1980er Jahren fast von einer Wiedergeburt des Erzählens aus dem Geiste des Kriminalromans sprechen. Umberto Ecos Weltbestseller Der Name der Rose (1980) ist sicherlich das prominenteste Beispiel, aber doch nur die Spitze eines gewaltigen Eisberges.

© SR

Sekundärliteratur

  • J. Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte, München 1998.
  • P. Nusser: Der Kriminalroman, Stuttgart 1992.
  • U. Suerbaum: Krimi. Eine Analyse der Gattung, Stuttgart 1984.