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Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der poetischen Nationallitteratur der Deutschen (1835-1842)

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Gervinus weist dem Literaturhistoriker eine politische Aufgabe zu. In einer historischen Situation, in der Deutschland durch staatliche Zerstückelung gekennzeichnet ist, kann nur im Kulturellen die Einheit beschworen werden:

"[Es] scheint doch endlich einmal Zeit zu sein, der Nation ihren gegenwärtigen Wert begreiflich zu machen, ihr das verkümmerte Vertrauen auf sich selbst zu erfrischen, ihr neben dem Stolz auf ihre ältesten Zeiten Freudigkeit an dem jetzigen Augenblick und den gewissesten Mut auf die Zukunft einzuflößen. Dies aber kann nur erreicht werden, wenn man ihr die Geschichte bis auf die neuesten Zeiten vorführt, wenn sie aus ihr und der vergleichenden Geschichte anderer Völker sich selbst klargemacht wird. [...] Keine politische Geschichte, welche Deutschlands Schicksale bis auf den heutigen Tag erzählt, kann je eine rechte Wirkung haben, denn die Geschichte muß, wie die Kunst, zu Ruhe führen, und wir müssen nie von einem geschichtlichen Kunstwerke trostlos weggehen dürfen. Den Geschichtskünstler möchte ich doch sehen, der uns von einer Schilderung des gegenwärtigen politischen Zustandes von Deutschland getröstet zu entlassen verstände. Die Geschichte der deutschen Dichtung dagegen schien mir mit ihrer inneren Beschaffenheit nach ebenso wählbar als ihrem Werte und unserem Zeitbedürfnis nach wählenswert. Sie ist, wenn anders aus der Geschichte Wahrheiten zu lernen sind, zu einem Ziele gekommen, von wo aus man mit Erfolg ein ganzes überblicken, einen beruhigenden, ja einen erhebenden Eindruck empfangen und die größten Belehrungen ziehen kann. Die Wahl eines Geschichtsstoffes mit den Forderungen und Bedürfnissen der Gegenwart in Einklang zu bringen, scheint mir aber eine so bedeutende Pflicht des Geschichtsschreibers, daß, hätte ich die politische, die religiöse, die gesamtliterarische oder irgendeine andere Seite der Geschichte unseres Volkes für passender und dringender zur Bearbeitung gehalten, ich diese andere ergriffen haben würde, weil auch kein Lieblingsfach den Historiker ausschließlich fesseln soll." (S. 178f.)

Zur Zielgruppe seiner so gearteten Literaturgeschichtsschreibung erklärt Gervinus die Nation: "Ich will nicht für die Bearbeiter und gelehrten Kenner dieser Literatur schreiben, nicht für eine besondere Klasse von Lesern, sondern, wenn es mir gelingen möchte, für die Nation." (S. 184) Als wichtigsten Unterschied zu üblichen Literaturgeschichten nennt Gervinus selber das Fehlen des ästhetischen Interesses zugunsten der Geschichte:

"Es [d.i. seine Literaturgeschichte] weicht besonders darin von allen literarischen Handbüchern und Geschichten ab, daß es nichts ist als Geschichte. Ich habe mit der ästhetischen Beurteilung der Sachen nichts zu tun, ich bin kein Poet und kein belletristischer Kritiker. Der ästhetische Beurteiler zeigt uns eines Gedichtes Entstehung aus sich selbst, sein inneres Wachstum und Vollendung, seinen absoluten Wert, sein Verhältnis zu seiner Gattung und etwa zu der Natur und dem Charakter des Dichters. Der Ästhetiker tut am besten, das Gedicht so wenig als möglich mit anderen und fremden zu vergleichen, dem Historiker ist diese Vergleichung ein Hauptmittel zum Zweck. Er zeigt uns nicht eines Gedichtes, sondern aller poetischen Produkte Entstehung aus der Zeit, aus dem Kreise ihrer Ideen, Taten und Schicksale, er weist darin nach, was diesen entspricht oder widerspricht, er sucht die Ursachen ihres Werdens und ihre Wirkung nach und beurteilt ihren Wert hauptsächlich nach diesen, er vergleicht sie mit dem Größten der Kunstgattung gerade dieser Zeit und dieser Nation, in der sie entstanden, oder, je nachdem er seinen Gesichtskreis ausdehnt, mit den weiteren analogen Erscheinungen anderer Zeiten und Völker." (S. 181f.)

Gervinus‘ Idee der Literaturgeschichte führt ihn zu dem Ergebnis, daß die deutsche Literatur um 1800 eine Blüteperiode erlebt habe bzw. erlebe. In Anlehnung an Hegels Ästhetik, geht er zunächst davon aus, daß die Literatur ihre ideale Ausformung bei den Griechen gefunden hat:

"Was unseren Gegenstand angeht, so war die Poesie, wie alle Kunst, bei den Griechen allein von keiner Religion und von keinem Stande und keiner Wissenschaft eingeengt, nur da konnte sie ihre edelsten Kräfte im vollesten Maße entwickeln, nur da Sitten, Glauben und Wissen gestalten und für alles echte Bestreben in der Kunst späterer Zeiten und Völker gesetzgebend werden." (S. 179)

Für seine Gegenwart konstatiert Gervinus schließlich die Blüte und damit das Ende der deutschen Literatur, die sich der griechischen Vollkommenheit angenährt habe:

"Italiener, Spanier, Franzosen und Engländer blieben in verschiedener Weise bei der griechisch-römischen oder bei der alexandrinischen Bildung haften, und die Deutschen allein setzten den steileren, aber belohnenderen Weg fort und gelangten zur schönsten Blütezeit griechischer Weisheit und Kunst, wo dann im vorigen und in diesem Jahrhundert jeder große Mann des hellenischen Altertums seinen Übersetzer, seinen Schüler oder sein Ebenbild bei uns erhielt. Goethe und Schiller führten zu einem Kunstideal zurück, das seit den Griechen niemand mehr geahnt hatte. [...] Sie leiteten mit Bewußtsein auf die Vereinigung des modernen Reichtums an Gefühlen und Gedanken mit der antiken Form, und dies eben war der Punkt, nach dessen Erreichung bei den Griechen, wie ich andeutete, die Kunst ausgeartet war." (S. 180f.)

©rein