Poststrukturalismus/Dekonstruktivismus

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"Was also ist ein Text? Ich werde nicht mit einer Definition antworten, das käme einem Rückfall in das Signifikat gleich. Der Text, im modernen Sinn, den wir diesem Wort zu geben versuchen, unterscheidet sich grundlegend vom literarischen Werk: Er ist kein ästhetisches Produkt, sondern eine signifikante Praxis; er ist nicht eine Struktur, sondern eine Strukturierung; er ist nicht ein Objekt, sondern eine Arbeit und ein Spiel; er ist nicht eine Menge geschlossener,mit einem freizulegenden Sinn versehener Zeichen, sondern ein Volumen sich verschiebender Spuren; die Instanz des Textes ist nicht die Bedeutung, sondern der Signifikant in der semiotischen und psychoanalytischen Verwendung dieses Terminus; der Text geht über das frühere literarische Werk hinaus; es gibt zum Beispiel einen Text des Lebens, in den ich durch das Schreiben über Japan Eingang zu finden suchte." (Barthes, S. 11)

Der Textbegriff spielt im Poststrukturalismus eine grundlegende Rolle. Roland Barthes benennt in dieser Beschreibung wesentliche Aspekte poststrukturalen Denkens und führt sie mit seiner Schreibweise gleichzeitig vor.

Schon im sprachwissenschaftlich inspirierten Strukturalismus wurde bei Textanalysen der Rekurs auf eine außersprachliche Einbettung (Zeitgeschichte, Autorintention, Autorbiographie) abgelehnt: Das literarische Zeichen erschien als von der realen Welt des Autors und Lesers abgekoppelt. Die Bedeutung eines Werkes sollte nur aus seiner inneren Struktur heraus rekonstruiert werden.

Die Poststrukturalisten radikalisieren und kritisieren die strukturale Herangehensweise, wenn sie die früher übliche Trennung von Form und Bedeutung (Signifikant und Signifikat) literarischer Zeichen mißachten, weil aus ihrer Sicht eine feste Bedeutung nicht feststellbar ist: Der Versuch, die Bedeutung eines Signifikanten festzustellen, führt nur zu weiteren Signifikanten, die man zu seinem Verständnis benötigt usf. Daraus folgt die Weigerung, den Sinn von Texten als buchstäblichen festzustellen, Definitionen zu geben und literarische Texte als geschlossene Werke zu betrachten: Die Grenze zwischen der (Literatur-) Wissenschaft als Theorie und der Literatur als ihrem Objekt wird dabei nicht einfach überschritten, sondern grundsätzlich negiert, was in den Schriften von Roland Barthes, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Jean Baudrillard besonders deutlich wird. Sie schreiben nicht über Literatur, sondern gehen in ihrer Lektüre den intertextuellen Beziehungen zwischen dem gelesenen Text und anderen Texten nach.

Ging es in der strukturalen Textanalyse um die Entschlüsselung der literarischen Codes, so verstehen die Poststrukturalisten ihre Tätigkeit als ‚subversiv‘, indem sie mit Hilfe der Texte selbst die in ihnen verwendeten Codes zerstören. Michel Foucault und Roland Barthes beantworten die Frage Was ist ein Autor? mit einer Absage an metaphysische Vorstellungen von Identität und Subjekt: Der Autor wird als Urheber eines Werkes negiert, da er – wie auch der Leser – von präexistierenden Codes abhängt: Es gibt somit kein 'Außerhalb' der Texte, was auch dazu geführt hat, daß die poststrukturale Theorie zu einer umfassenden Kulturtheorie weiterentwickelt wurde, in der die Welt als Text gelesen wird: Eine außersprachliche (eigentlich: außersemiotische) Wirklichkeit, auf die im Text Bezug genommen würde, existiert nicht, vielmehr sind Selbst- und Fremdbild ebenso codiert wie Texte und damit nie genau faßbar. Eine materialistische oder semiotische Kritik an Strukturen und Codes, die unsere Wahrnehmung eben nicht naturgemäß, sondern historisch entwickelt organisieren, ist nicht mehr möglich, da man sich nie jenseits von Strukturen befinden kann. Barthes ersetzt die bisherigen, nach den politischen Bewegungen um 1968 als gescheitert anzusehenden Versuche einer ideologiekritisch-aufklärerischen Codezerstörung durch ein subversives, die Codes verschiebendes Schreiben, Foucault entwickelt eine feinsinnige Analyse der Mikrophysik der Macht, die in den Strukturen enthalten ist.

© pflug

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