Niklas Luhmann

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* 8.12.1927, Lüneburg
† 6.11.1998, Bielefeld

Jurist und Soziologe

Der Soziologe Niklas Luhmann gilt als der deutsche Vertreter und Begründer der Systemtheorie. Er hat mannigfaltige Forschungen nicht nur in der Soziologie, sondern auch in den Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, in der Theologie, der Geschichtswissenschaft, Kommunikationswissenschaft und in der Literaturwissenschaft angeregt. Grund hierfür ist sein Anspruch, alle gesellschaftlichen Teilbereiche mit denselben Kategorien beschreiben zu können.

Wie ist das möglich? Die Systemtheorie hat einen völlig neuen Blick auf die vormoderne und moderne europäische Gesellschaft geworfen. Für Luhmann gelten nicht länger die sozialen Unterschiede als bestimmende Strukturprinzipien der Gesellschaft, sondern die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche (Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft, Kunst, Erziehung, Liebe), in denen nach je eigenen Logiken unabhängig von den jeweils anderen Systemen gehandelt wird - Luhmann bevorzugt den Begriff kommuniziert. Diese Systeme bezeichnet er als Funktionssysteme, die jeweils eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe / Funktion exklusiv übernehmen. Das Wirtschaftssystem hat die Aufgabe, knappe Güter zu verteilen, das Rechtssystem formuliert allgemein bindende Rechtsnormen und setzt sie durch, das Wissenschaftssystem gewinnt Erkenntnisse über die Wirklichkeit und das Politiksystem trifft kollektiv bindende Entscheidungen. All diese Systeme sind laut Luhmann ähnlich strukturiert. Ihnen ist gemeinsam, daß sie eine Funktion exklusiv erfüllen müssen, und daß sie autonom sind - sie erzeugen also die Regeln, nach denen sie operieren, ebenso selber, wie auch die Elemente, aus denen sie bestehen. Diesen Vorgang nennt Luhmann Autopoiesis. Außerdem orientieren sich die Systeme an einer Leitdifferenz, im Wirtschaftssystem geht es etwa vorrangig um Zahlen und Nichtzahlen, im Rechtssystem um die Differenz zwischen Recht und Unrecht, im Wissenschaftssystem um die von Wahrheit und Unwahrheit, - im Politiksystem schließlich um Macht oder Nicht-Macht. Diese Leitdifferenz wird auch der Code des Systems genannt.

Konkretisieren wir diese abstrakten Vorstellungen am Beispiel von Luhmanns Kunsttheorie, genauer: am Beispiel des Literatursystems als ein Subsystem des Kunstsystems. Die Literatur übernimmt in der Moderne eine exklusive Funktion für die Gesellschaft. Sie produziert Weltkontingenz, d.h. sie erzeugt eine alternative, fiktive zweite Realität zur ersten - wirklichen - Realität. In der Literatur finden wir also stets einen fast unerschöpflichen Ideenpool, der uns zeigt, wie unsere wirkliche Realität besser sein könnte, schöner, interessanter oder einfach nur anders. Hier bekommt der Einzelne Alternativen vor Augen geführt, z.B. anders zu lieben, interessanter zu kaufen, politischer zu handeln, das Verhältnis zur Elterngeneration in einem neuen Licht zu sehen etc., etc. Wie diese zweite, literarische Realität aussieht, ist unabhängig von den Vorstellungen anderer Systeme. Der Politiker oder Jurist hat keinen Einfluß darauf, was der Künstler schreibt. Selbst wenn ein Roman aus Gründen der Jugendgefährdung auf den Index kommt, ist er weiterhin ein Kunstwerk. Ein Roman, in dem der Bundeskanzler die Leistungen seiner Regierung heroisiert und ihre Zukunftspläne in den rosigsten Farben schildert, würde jedoch nicht als Kunstwerk akzeptiert, er bleibt Teil des politischen und nicht des Kunstsystems. Was Literatur ist, entscheidet weder das Rechts- noch das Politiksystem, sondern nur das Literatursystem selber, indem es Literatur im Spannungsfeld von schön und häßlich erzeugt und reflektiert. Literatur wird nach systemtheoretischer Auffassung also autopoietisch vom Literatursystem erzeugt. Im Vergleich zu den bis ins 18. Jahrhundert gültigen normativen Poetiken ist die Literatur in der Wahl ihrer Themen und Formen autonom. Ein moderner Text kann demnach auch eine phantastische Utopie ohne direkten Realitätsbezug sein, er muß nicht im Sinne der Poetik des Aristoteles etwas Mögliches oder sogar Wahrscheinliches zeigen. Literarische Werke können unmoralisch sein und brauchen sich nicht an feststehende ästhetische Regeln halten, wie wir sie aus dem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) von Opitz kennen. Auch die Vermittlung moralischer Grundsätze obliegt der Literatur nicht, wie Gottsched noch in seiner Dichtkunst (1730) fordert. Historisch hat sich Literatur als autonomes Funktionssystem im Zuge der langsamen Auflösung der christlichen Ständegesellschaft zur funktional differenzierten Gesellschaft um 1800 entwickelt. Ein wichtiger Katalysator für diese Entwicklung war gewiß die Romantik und mit ihr Friedrich Schlegel mit seiner Progressiven Univeralspoesie.

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Wichtige Schriften

Sekundärliteratur