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Der Marxismus ist im Kern eine Theorie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die von der 'letztinstanzlichen' Determinationskraft der ökonomischen Basis gegenüber dem sogenannten 'Überbau' politischer, sozialer, kultureller und künstlerischer Gebilde ausgeht. Ausgearbeitet wurde sie von Karl Marx und  Friedrich Engels in erklärt praktischer Absicht: um diese Gesellschaftsform, die auf der Ausbeutung der proletarischen Klasse beruhe, umzustürzen und durch eine sozialistische Gesellschaft ohne Klassenkonflikte zu ersetzen.

Unter diesem Primat der Praxis kann Kunst und Literatur bestenfalls als "Nebenprodukt bei der Veränderung der Welt" (Brecht) verstanden werden. Insofern bieten auch nur wenige Sektoren marxistischer Theoriebildung Ansatzpunkte für eine spezifische Theorie der Kunst oder die Analyse von Kunstwerken: in erster Linie die Geschichtsauffassung und das Ideologiekonzept der Marxschen Frühschriften.

Die Äußerungen der marxistischen Gründerväter über Kunst und Literatur sind zumeist sehr zeitgebunden. Als umfassend gebildete Bürger teilen Marx und Engels die ästhetischen Maßstäbe und Vorlieben, die schon in der Goethezeit geprägt wurden. So preisen sie die Kunst der griechischen Antike mit ähnlichen Worten wie Winckelmann, Goethe, Humboldt und Hegel. Manche pointierten Äußerungen können bestenfalls als Anregungen dienen, wie z.B. Marxens berühmte Reflexion über "das unegale Verhältnis [...] der materiellen Produktion, z.B. zur künstlerischen": "Ist Achilles möglich mit Pulver und Blei? Oder überhaupt die 'Iliade' mit der Druckerpresse oder gar Druckmaschine? Hört das Singen und Sagen und die Muse mit dem Preßbengel nicht notwendig auf, also verschwinden nicht notwendige Bedingungen der epischen Poesie?

Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehn, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten." (S. 125)

Eine materialistische Literaturtheorie entwickelte sich nur mühsam und diskontinuierlich. Im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb bleibt marxistisches Gedankengut weithin ausgegrenzt; in marxistischen Parteien oder sozialistischen Staaten wird Literatur- und Kunsttheorie zumeist willkürlich an Herrschaftsinteressen ausgerichtet - wie im Sozialistischen Realismus der Stalin-Ära, der - mit Hilfe von Theoretikern wie Georg Lukács - die kommunistische Zukunftsvision ins Gewand eines abgenutzten bürgerlichen Realismus kleidete (zugleich aber abweichende und konkurrierende Positionen unterdrückte).

Von wesentlich höherem Anregungswert waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deshalb die Versuche westlicher Neomarxisten, zumeist kreativer Einzelgänger, die einerseits an den hegelschen, d.h. prozeßorientierten Elementen der Marxschen Theorie ansetzten, andererseits die Breite und Vielfalt der zeitgenössischen Kunstformen und -medien in den Blick nehmen. Persönlich halten sie zumeist einen minimalen Sicherheitsabstand zur kommunistischen Partei ein. Gemeinsam ist den verschiedenen, teilweise sogar konträren Versuchen und Entwürfen von Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno, daß sie die Produktivkraft Kunst ernst nehmen und gegenüber den ökonomischen Zwängen aufwerten. Damit öffnen sie den Blick für die Zeit-, Material- und Mediengebundenheit des künstlerischen Schaffens, aber auch für die Bedeutung des subjektiven Faktors in diesem Produktionsprozeß.

In Deutschland war die marxistische Theorietradition seit 1933 unterbrochen; auch nach 1945 wurde sie im Westen noch pauschal ausgegrenzt, im Osten nur selektiv zugelassen und dogmatisch umgesetzt. Die intensive Marxismus-Rezeption seit den sechziger Jahren hatte deshalb eine wichtige 'nachholende' Funktion. In der Literaturwissenschaft hat sie zur definitiven Ablösung der werkimmanenten Interpretation beigetragen, ohne selbst dauerhaft ein eigenes Paradigma ausbilden zu können. Inhaltliche Anregungen sind aber in die Sozialgeschichte der Literatur bzw. die Literatursoziologie eingeflossen. Ein ungelöstes Problem bleibt nach wie vor die Verbindung mit einer Sprachtheorie, die erst die schlüssige Vermittlung historischer und ideologischer Aspekte mit der ästhetischen Struktur eines Werkes leisten könnte.

© JV

Quelle

  • Karl Marx/Friedrich Engels über Kunst und Literatur 2 Bde. 1968.

Wichtige Schriften

  • Fritz J. Raddatz (Hg.): Marxismus und Literatur (3 Bde. 1969)
  • H. Ch. Buch (Hg.): Parteilichkeit der Literatur oder Parteileiteratur? Materialien zu einer undogmatischen marxistischen Ästhetik (1972)