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Georg Lukács: Die Theorie des Romans (1916)

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In der ebenso anregenden wie umstrittenen Schrift (verfaßt 1914/15) orientiert sich der ungarische Philosoph - in seiner vormarxistischen Phase - an Hinweisen Hegels zum historischen Ort und zur Leistung der Formen der großen Epik, also des Epos und des Romans. Sein teils pathetisch, teils lyrisch gefärbter Stil macht dabei Die Theorie des Romans auch formal bemerkenswert.

Wie Hegels Ästhetik sieht Lukács im Epos die 'natürliche' Entsprechung zur homogenen, abgerundeten Welt der griechischen Antike, die dem Menschen eine urbildliche Heimat gibt. Die "Produktivität des Geistes" (Erkenntnis und Arbeit) sprengt aber jene Geschlossenheit auf: die (moderne) Welt wird unendlich groß [...] und reicher an Geschenken und Gefahren - sie verliert ihre 'heimatliche' Qualität. Diese transzendentale Obdachlosigkeit ist nun der historische Ort für die Form des Romans: "Der Roman ist die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat." (S. 47)

So strebt der Roman vergeblich nach Sinnerfüllung, seine Helden sind stets auf der Suche, seine innere Form ist die "Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst"; und deshalb tritt an die Stelle 'naturhafter' 'Geschlossenheit' die reflektierte "Komposition des Romans", d.h. "ein paradoxes Verschmelzen heterogener und diskreter Bestandteile zu einer immer wieder gekündigten Organik". (S. 73)

Dieser idealtypische, ja spekulative Kontrast von Antike und Moderne, von Epos und Roman läßt die Differenzierung vermissen, die literaturhistorisch erforderlich wäre. Doch werden wesentliche Strukturen und Tendenzen des modernen Romans prägnant erfaßt - etwa in der Forderung, "das Unabgeschlossene, Brüchige und übersichhinausweisende der Welt bewußt und konsequent als letzte Wirklichkeit" (S. 61) zu setzen.

Im zweiten Teil des Essays entfaltet Lukács eine Typologie der Romanformen, die an Hegels Bemerkungen über tragische, komische und versöhnliche Konfliktlösung anschließt. Entscheidend ist nach Lukács die Relation "Seele" (des Helden) und "Außenwelt". (S. 83)

Im Roman des "abstrakten Idealismus" (S. 83) - exemplarisch im Don Quijote des Cervantes - ist der Held wegen der Verengung seiner Seele der Komplexität der äußeren Welt nicht gewachsen, muß notwendig an ihr scheitern - und zwar auf komische Weise, wie jener 'Ritter von der traurigen Gestalt'.

Wo die Seele breiter und weiter angelegt ist als die Schicksale, die ihr das Leben zu bieten vermag, geht es um den Desillusionsroman. Der Verlust der (geistigen, politischen, erotischen) Ideale im Zusammenprall mit einer feindlichen und 'prosaischen' Welt führt den (oft jungen) Romanhelden ins Scheitern oder in die Resignation. Dieser Typus ist unter den europäischen Romanen des 19. Jahrhunderts sehr verbreitet.

Als (deutsche) Kompromißform sieht Lukács den "Erziehungsroman" (S. 120) - später meist Bildungsroman genannt - und Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre als Idealtypus: "sein Thema ist die Versöhnung des problematischen, vom erlebten Ideal geführten Individuums mit der konkreten, gesellschaftlichen Wirklichkeit." (S. 117)

Ein fortdauerndes Interesse an der Theorie des Romans speist sich - gegen alle Kritik - aus ihrer prognostischen Schärfe: Viele der beobachteten Strukturen (z.B. die Thematik und Behandlung der Zeit) prägen sich deutlich erst im modernen Roman des 20. Jahrhunderts aus - also in Werken, die Lukács bei der Abfassung noch nicht kannte. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, daß Argumente der Theorie des Romans von nachfolgenden Theoretikern wie Walter Benjamin und Theodor W. Adorno aufgenommen werden.

©JV

Quelle

  • Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt / Neuwied 1982.

Sekundärliteratur

  • R.-P. Janz: Zur Historizität und Aktualität der "Theorie des Romans" von Georg Lukács, in: Jahrbuch d. dt. Schillergesellschaft 22 (1978), S. 674-699.
  • J. Schramke: Zur Theorie des modernen Romans, München 1974.
  • J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 7. Aufl. Opladen 1990, Kap.V.