Hans Magnus Enzensberger

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* 11.11.1929, Kaufbeuren / Allgäu

Lyriker, Essayist, Herausgeber und Übersetzer

Als Gedichte eines "zornigen jungen Mannes" hat Alfred Andersch das Lyrik-Debüt Hans Magnus Enzenbergers verteidigung der wölfe (1957) gefeiert. 1963 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet, ist Enzensberger schon in jungen Jahren eine feste Größe, ja ein Klassiker der westdeutschen Nachkriegsliteratur geworden. Häufig will man sein Markenzeichen darin sehen, daß er keines besitzt, und sich allen dauerhaften Zuschreibungen entzieht. Tatsächlich fällt es schwer, aus der Fülle seiner schriftstellerischen Produktion einen 'gemeinsamen poetischen Nenner' zu bilden.

Enzensberger ist zum Inbegriff literarischer Vielfältigkeit geworden: In erster Linie Lyriker und Essayist, hat er ebenso erzählende Prosa und Dramatik geschrieben, Hörspiele, Opernlibretti, Kinderbücher und Filmdrehbücher verfaßt. Der promovierte Literaturwissenschaftler ist ein Reisender auf vielen Kontinenten und einer der profiliertesten literarischen Übersetzer aus mehreren Sprachen. Er hat als Lektor beim Suhrkamp Verlag und Radioredakteur gearbeitet, ist Herausgeber der Buchreihe Die Andere Bibliothek (seit 1985) und Begründer der renommierter Zeitschriften Kursbuch (1965) und TransAtlantik (1980). Verbunden sind diese weitgefächerten Aktivitäten durch das Bestreben nach politischem und poetischem Nonkonformismus. Hierin erweist sich Enzensberger dann doch als ein 'typischer' Vertreter der bundesrepublikanischen Nachkriegsliteratur. Wie seinen Generationsgenossen und Schriftstellerkollegen in der Gruppe 47 - etwa Günter Grass oder Heinrich Böll - ist ihm die Dissidenz, das Ausscheren aus der Phalanx der Meinungsblöcke oft oberstes Gebot gewesen.

Die Haltung des Nonkonformismus entstand in Auseinandersetzung mit der Restaurationsära unter Konrad Adenauer. Enzensbergers Formel für die westdeutsche Wirtschaftswunderwelt der fünfziger Jahre lautete: "musterland, mördergrube". Von der verbreiteten Naturbeschwörung in der Nachkriegslyrik waren seine ersten Gedichte ebenso weit entfernt wie vom Ausschreiben der lyrischen Traditionslinien Bertolt Brechts und Gottfried Benns. Enzensbergers Poetik schöpfte schon früh aus einem sehr viel weiter gefaßten Traditionsrahmen, der auch die Experimente der europäischen Avantgarden mit einbezog. Die von ihm herausgegebene Anthologie Museum der modernen Poesie (1960) kann einen Eindruck davon vermitteln.

Die zweite Hälfte der sechziger Jahre mit ihrer 'Politisierung' der Literatur steht für Enzensberger ganz im Zeichen der Essayistik, die das Projekt einer "politischen Alphabetisierung Deutschlands" verfolgt. Im Kursbuch erscheinen zahlreiche Texte, die sich mit medien- und sprachkritischen Fragen beschäftigen und vor allem die Funktion der Literatur in einem sich wandelnden gesellschaftlichen Umfeld zur Disposition stellen. Seit seiner bekanntesten Intervention Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend geht Enzensberger der Ruf nach, er habe im Kursbuch 15 von 1968 den "Tod der Literatur" ausgerufen. Allerdings hatte er lediglich die gesellschaftliche Folgenlosigkeit der zeitgenössischen Kunstproduktion konstatiert und von einem notwendigen Funktionswandel der Literatur gesprochen. Das Verhältnis von Literatur und Politik, Dichtung und Engagement ist beständiger Gegenstand seines Nachdenkens geblieben.

Die Texte der siebziger Jahre reflektieren den langen Abschied von der gesellschaftlichen Utopie. Während das Dokumentarstück Das Verhör von Habana (1970) und der Roman Der kurze Sommer der Anarchie (1972) noch nach der verschütteten revolutionären Glut fahnden, rückt in dem Poem Der Untergang der Titanic (1978) die Frage in den Mittelpunkt: Wie kann dem Scheitern, der Katastrophe mit den Mitteln der Kunst begegnet werden? Doch Enzensberger verfällt nicht der resignativen Geschichtsvergessenheit jenes Jahrzehnts der sogenannten 'Neuen Subjektivität'. Auch seine Lyrik dieser Zeit (Mausoleum, 1975) hebt sich mit dem Gestus des Lehrgedichts - ohne didaktischen Impetus - deutlich von der Alltags- und Ichversessenheit der zeitgenössischen lyrischen Produktion ab.

Im darauffolgenden Jahrzehnt erscheinen die wichtigen Essaysammlungen Politische Brosamen (1982) und Mittelmaß und Wahn (1988). Enzensberger erweist sich in ihnen einmal mehr als ein feinsinniger Kommentator der literarischen Lage und der politischen Realität kurz vor der deutschen Wiedervereinigung. Er beobachtet das Ende der Gesellschaftskritik in ihrer traditionellen Form und ein Ankommen in der 'Normalität', ohne in ihr Beruhigung zu finden. Auch nach dem historischen Einschnitt der Wiedervereinigung ist Enzensberger von der kulturpolitischen Bühne nicht wegzudenken.

In den letzten Jahren tritt die Reflexion über das eigene Leben und Werk immer stärker in den Vordergrund. Enzensberger inszeniert sich in vielerlei Gewändern. In den Büchern über andere Autoren und Werke (wie Denis Diderot und Clemens Brentano) ist das eigene immer mit gemeint. Wenn auch der Zorn des jungen Mannes gealtert sein mag, seine Ironie und die listige Vernunft des Aufklärers bleiben jung. Deswegen trifft die Gedichtzeile, die Ralf Zöller im Jahr 2000 für seinen Enzensberger-Film wählte, noch immer ins Zentrum: "Ich bin keiner von uns".

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Wichtige Schriften

Sekundärliteratur