Manfred Bierwisch: Poetik und Linguistik (1965)

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* 28.07.1930, Halle

Linguist

Bierwisch entwickelt in seinem Aufsatz Poetik und Linguistik das Programm einer exakten empirischen Literaturwissenschaft in Anlehnung an linguistische Sprachtheorien und Methoden. Anders als Roman Jakobson bezieht er sich nicht auf den Strukturalismus, sondern geht von dem Modell der generativen Transformationsgrammatik aus, das nicht Regeln der Sprachstruktur, sondern der Hervorbringung wohlgeformter Sätze beschreibt. Wie auch Jakobson grenzt er seinen Entwurf der Poetik als eine "Theorie der Struktur literarischer Texte" (S. 568) von der hermeneutischen Textinterpretation ab. Er räumt aber ein, daß die Hermeneutik zu gleichen Ergebnissen hinsichtlich der Poetizität (Poesiehaftigkeit) (Jakobson) eines literarischen Werkes kommen kann, und außerdem, daß eine linguistisch orientierte Poetik nicht alle literarischen Phänomene erfassen kann: "Es ist also nur ein Teilbereich des komplexen, von historischen und soziologischen Fakten mitbestimmten Problems literarischer Wirkung, der durch die Poetik erklärt werden kann. Es scheint mir aber ein entscheidender Bereich zu sein, der Voraussetzung für die Erklärung weiterer Zusammenhänge sein kann." (S. 585) Denn der Hermeneutik fehlt der Blick für allgemeine Prinzipien: "die Hermeneutik [kann] jedes einzelne Objekt beliebig genau umschreiben, die für sein Verständnis, seine Wirkung wichtigen Eigenschaften herausfinden, ohne jemals zu einer Theorie dieser Eigenschaften zu kommen." (S. 569)

In Analogie zum linguistischen Konzept der grammatischen Kompetenz benennt er für die Poetik eine "poetische Kompetenz als Untersuchungsgegenstand, d.h. die menschliche Fähigkeit, solche (poetischen) Strukturen zu produzieren und ihre Wirkungen zu verstehen." (S. 570)

Poetische Strukturen wie Vers, Reim, Alliteration bedienen sich parasitär der sprachlichen Struktur, indem sie diese überlagern oder von ihr abweichen. Ist aber dann jede grammatische Abweichung bereits poetisch? Bierwisch gibt als Kriterium der Poetizität einer grammatischen Abweichung ihre Regelhaftigkeit an und führt zugleich das Modell einer Skala der Poetizität ein, ohne dessen weitere Ausarbeitung jedoch zu skizzieren.

Neben der sekundären Textstrukturierung und den regelhaften Abweichungen von der Grammatik bestimmt Bierwisch als drittes Mittel der Poetizität die Abweichung von älteren poetischen Strukturen: "Die Trivialisierung zahlreicher poetischer Regularitäten führt zur Etablierung stets neuer Abweichungsregeln." (S. 582) Da solche regelhaften poetischen Abweichungen oft erst mit dem Werk selbst entstehen, also noch gar nicht codiert sind, bedeutet dies für den Leser, "daß er erst im Prozeß des Verstehens das Regelsystem erwirbt, demgemäß er den Text versteht" (S. 583): Er muß den Code auf der Grundlage seiner Kenntnis anderer, älterer poetischer Codes brechen.

©pflug

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