Startseite Index

Joseph Nadler: Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften (1938-1941)

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

 

Beschrieb Joseph Nadler in den drei vor dem Dritten Reich erschienenen Auflagen seiner Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften die Entwicklung des deutschen Volkes als eine Geschichte der Rassenvermischung, so suchte er in der vierten Auflage die Durchsetzung der nordisch-germanischen Rasse entgegen aller Blutsvermischungen zu beschwören. Der Deutsche habe sich zwar sowohl mit dem Slaven als auch mit dem Römer vermischt, er konnte "sich dennoch in den Grundbeständen seiner Rasse [...] behaupten." (Band 1, S. 3)

Trotzdem sei er nun einer neuen Gefahr ausgesetzt: dem Judentum. "Seit dem siebzehnten Jahrhundert schwoll der geistige Einfluß der Juden mächtig an", eine Entwicklung, die Nadler augenscheinlich unheimlich ist, denn der Jude finde sich nicht ab mit seinem Judentum, sondern "setzt dagegen seinen Tatwunsch: ich will ein Deutscher sein. Das kann aber nicht in der Wirklichkeit, sondern nur in einem Wunschbilde statthaben. Dieses 'als ob' hat einen Doppelsinn. Man schob mit Absicht, um die Kluft so harmlos als möglich erscheinen zu lassen, die wirklichen Unterschiede beiseite und bildete scheinbar leicht zu lösende: Jude, eine Bekenntnissache; Jude, eine Frage der bürgerlichen Rechte; Jude, eine bloß geistige Frage. Und so setzte man den ganzen Übergang ins Geistige: denken, reden, handeln, sich geben, wie man es für wesenhaft deutsch hält. Man kam in der Annahme überein, als löse man eine völkische Aufgabe, da man doch bestenfalls eine Bildungsfrage zu lösen vermochte. [...] Aus diesem Widerspruch zwischen Naturgesetz und Wille, zwischen dem Gesetz des Körpers und dem Wunsch des Geistes, zwischen 'sich fühlen' und 'sich wissen', zwischen Wirklichkeit und Einbildung stimmt sich die tragische Seelenlage der Juden, die sich als Deutsche 'imaginierten'. " (Band 3, S. 6f.)

Aber diese "imaginierten Deutschen" täuschten die "wahren Deutschen" nicht darüber hinweg, daß durch die "Vermischung" des Deutschen mit dem Jüdischen die Reinheit gefährdet sei. Diese "Vermischung" wird geradezu als Bedrohung empfunden: "Man sah das bisher eingekapselte Gastvolk langsam in den Körper des Wirtes zerfließen, eine Wirklichkeit, gegen die es keine Abwehr gab. Während das fremde unerwünschte Blut von Altersstufe zu Altersstufe immer tiefer in den Volkskörper drang nach den unentrinnbaren Gesetzen der Ahnentafel, rief man gegen das Schicksal den Willen auf. Aber so wenig der Einzelne für sich Glied eines anderen Volkes werden kann, so wenig läßt das Blut sich ausstoßen, das uns in den Leib gezeugt wurde. Wird die Tragik dort durch den Wunsch ausgelöst, so hier durch den Widerstand. Ein Volk, das keinen inneren Widerwillen empfindet, wird Blutmischung niemals tragisch nehmen, sondern nur eines, das bleiben will, was es ist, und vom Schicksal gezwungen wird, zu werden, was es nicht sein will." (S. 7) Und ein solches Volk sei das Volk der Deutschen.

Diese Zitate heben sehr plastisch hervor, was es bedeutet, wenn ein totalitärer Staat eine bestimmte Ideologie vorgibt. Sie pflanzt sich fort bis in die kleinsten Teilbereiche der Wissenschaften. Bereits bestehendes Wissen wird umgedeutet, wissenschaftliche Werke werden umgeschrieben. Josef Nadler ist hier nur ein sehr deutliches Beispiel – auch durch seinen schon vormals völkisch gefärbten Zugang – er ist sozusagen die Spitze eines Eisberges. Aber auch andere Germanisten, deren Arbeiten aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik noch heute unter Literaturwissenschaftlern Beachtung finden, haben sich diesen faschistischen Deutungsvorgaben nicht entzogen.

©rein

Quelle

  • Joseph Nadler: Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften, Bd. 1, Berlin 1939.