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Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan (1953)

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Böswillig könnte man behaupten, die Idee des Stückes entspringe der Rachsucht einer beleidigten Diva: Als Brecht 1926 mit den Dichterkollegen Alfred Döblin und Arnolt Bronnen nach Dresden zu einer Dichterlesung geladen wird und am Vorabend nur schlechte Opernkar-ten erhält, verfaßt er beleidigt ein Gedicht, in dem die drei als Götter auftreten und aufgrund der ausbleibenden Huldigungen drohen, die Stadt zu überfluten. Diese (scherzhafte) Idee kombiniert Brecht im skandinavischen und amerikanischen Exil mit einigen noch aus den 30er Jahren stammenden unabgeschlossenen Plänen für ein Stück über die Prostitution (die er als Ergebnis ökonomischer Ausbeutungsverhältnisse verstand). Unter intensiver Verarbeitung von Motiven und Techniken des chinesischen Theaters und chinesischer Philosophie entstand schließlich Der gute Mensch von Sezuan.

In diesem Stück suchen drei Götter die Provinz Sezuan heim, um einen einzigen guten Menschen zu suchen, der die Einrichtung der Welt, so wie sie, ist rechtfertigen kann. Sie mei-nen ihn in der Prostituierten Shen Te zu finden. Diese wird mit einem kleinen Kapital ausgestattet und zum Gutsein ermahnt, droht aber gerade an ihrer Hilfsbereitschaft zu scheitern, die ihre Mitmenschen hemmungslos ausnutzen. In ihrer Not erfindet sie sich den Vetter und Erzkapitalisten namens Shui Ta als ihr alter ego. Er sichert mit Härte und unsauberen Mitteln ihr Überleben. Zuerst nur als Nothilfe gedacht, nimmt er schließlich vollständig Besitz von Shen Te, die von ihrem betrügerischen Liebhaber schwanger und verlassen am Rande der Pleite steht, und wandelt ihren kleinen Tabakladen durch Ausbeutung der Hilfsbedürftigen Schritt für Schritt in ein Tabakimperium um. Erst als Shui Ta des Mordes an Shen Te angeklagt wird und vor die als Richter getarnten Götter tritt, läßt Shen Te die Maske fallen und konfrontiert sie mit der Ausweglosigkeit ihrer Situation: "Euer einstiger Befehl / Gut zu sein und doch zu leben / Zerriß mich wie ein Blitz in zwei Hälften. Ich / weiß nicht, wie es kam: gut sein zu an-deren / Und zu mir konnte ich nicht zugleich. / … Denn wer könnte / Lang sich weigern, böse zu sein, wenn da stirbt, wer kein Fleisch ißt?" ( S. 291) Die Götter aber weigern sich, diese Zerrissenheit wahrzunehmen und entschweben einfach auf einer rosa Wolke. Zurück bleiben die alleingelassene Shen Te und ein ratloser Spielleiter, der sich wegen der ausbleibenden Lösung entschuldigend ans Publikum wendet: "Wir stehen selbst betrübt und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen." (S. 294 - auch nach dem Ende des Literarischen Quartetts wohl die berühmtesten Zeilen des Stücks)

Brecht nutzt in diesem Stück vor allem die Mittel der chinesischen Theaterkunst, um ganz im Sinne seines Epischen Theaters das Geschehen auf der Bühne zu verfremden und der Ein-fühlung zu entziehen. So läßt er Masken aufsetzen, kommentierende Songs die Handlung unterbrechen und die Figuren sich teilweise selbst vorstellen oder direkt ans Publikum wenden. Als revolutionär wird der erstmalige Einsatz der bis dahin nur im Film verwendeten Rückblende bezeichnet. Die vielfach verwendeten Zitate chinesischer Philosophen (zumeist in der Form von Sprichwörtern) geben dem auf der Bühne präsentierten Geschehen ein exotisches Flair - ohne aber ein authentisches China zeigen zu wollen.

Die Figur der Shen Te ist deshalb auch nicht als tragisch zerrissene Persönlichkeit angelegt, sondern dient wie das gesamte Stück einer Demonstration (als die Brecht die Arbeit eines Schauspielers stets verstanden wissen wollte): Der gute Mensch von Sezuan ist angelegt als Parabel über die Aufspaltung des Menschen im Kapitalismus in zwei Hälften: eine private, moralische, und eine öffentliche, dem Erwerbszwang ausgesetzte. - Aus dem Abstand von gut 50 Jahren kann heute nicht mehr von einer anregenden Wirkung des Stücks ausgegangen werden. Dafür scheint weder das Theater als Institution noch geeignet, noch kann die zwangsläufige Simplifizierung des Parabeltheaters komplexere gesellschaftliche Zusammenhänge adäquat darstellen. Der berühmte Schlußsatz interessiert deshalb heute vor allem als Doku-ment für Brechts Idealvorstellung einer Veränderung der Haltung des Zuschauers: "Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß! / Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!" (S. 295)

© JK

Quelle

  • Bertolt Brecht: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag. Bd. 2, Frankfurt/M. 1997.