Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk (1931)

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Der polnische Philosoph Roman Osipovich Ingarden hat sich, angeregt durch die phänomenologische Schule in Deutschland (Promotion bei Edmund Husserl), mehrfach mit Grundproblemen der philosophischen Ästhetik, insbesondere mit der Frage nach der "Seinsweise" des Kunstwerks auseinandergesetzt. Seine wichtigste frühe Studie über Das literarische Kunstwerk hat dabei, sowohl wegen ihrer Zwischenstellung zwischen Philosophie und Literaturwissenschaft wie auch wegen der historischen Umstände (Ingarden war bis 1933 und nach 1945 Professor in Lwow/Lemberg), eine verzögerte und ehr unterschwellige Rezeption erfahren. Im Rückblick wird deutlich, wie viel sie auf Grund ihrer begrifflichen Schärfe zur Präzisierung des Literaturkonzepts der später so genannten werkimmanenten Interpretation hätte beitragen können. Tatsächlich wurden Ingardens Überlegungen, besonders sein Konzept der "Unbestimmtheitsstellen" im literarischen Werk, aber erst von der Rezeptions- und Wirkungsästhetik der siebziger Jahre aufgegriffen und weiter entwickelt.

Ingarden bestimmt das literarische Kunstwerk zunächst grundsätzlich als "intentionalen Gegenstand" und grenzt es damit sowohl von materiellen Objekten wie von psychischen Zuständen ab. Seine Aussagen sind, logisch gesehen, scheinbare Behauptungen oder "Quasi-Urteile" (ähnlich formuliert das auch die neuere literaturwissenschaftliche Theorie der Fiktion.) Das literarische Werk ist weiterhin als ein "mehrschichtiges Gebilde" zu verstehen. Genauer gesagt wird es durch vier miteinander verklammerte Schichten konstituiert: erstens (gewissermaßen von unten gesehen) die Schicht der "sprachlichen Lautgebilde" (z.B. Wort, Rhythmus, Reim) zweitens die Schicht der "Bedeutungseinheiten" (z.B. Namen, Satz), drittens die Schicht der "dargestellten Gegenständlichkeit" (z.B. Raum, Figuren), viertens die "Schicht der schematisierten Ansichten" (perspektivische Präsentation des Gehalts). Die aus dem Zusammenwirken dieser Schichten resultierende Bedeutungsvielfalt oder "Polyphonie" versteht Ingarden als "das Wesentliche für das literarische Werk". (Der gleiche Begriff wird in etwas anderer Definition auch von dem Erzähltheoretiker Michail Bachtin benutzt). Der Kunstcharakter eines Werkes erfüllt sich für Ingarden sich in der "polyphonen Harmonie".

Die polyphone Struktur des Werkes und sein vielfältiges Sinn-Angebot müssen von den Rezipienten jedoch erst 'konkretisiert' werden; in diesen "Konkretisationen" erfüllt sich erst das "'Leben' des literarischen Werkes". Sie sind unverzichtbar, weil das Werk als "schematisches Gebilde" notwendiger Weise stets "'Lücken', Unbestimmtheitsstellen, schematisierte Ansichten usw. in sich enthält". Sie sind zugleich vielfältig (bei verschiedenen Rezipienten oder Rezeptionsakten), weil sie vom Werk her "in gewissen Grenzen vorgeschrieben sind, aber trotzdem von Fall zu Fall" - also bei verschiedenen Rezipienten oder auch bei verschiedenen Lektüren des gleichen Rezipienten - "variieren" können (S.353, 362). Hier wird der methodische Anschlusspunkt für die Argumentation der Rezeptionsästhetiker Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß besonders deutlich.

Kritisch diskutiert wurde hingegen Ingardens Vorstellung von der "polyphonen Harmonie" des Kunstwerks. Sie erinnert an den Begriff der Dichtung als "in sich geschlossenes sprachliches Gefüge", den Wolfgang Kayser in Das sprachliche Kunstwerk (1948) verwendet. Beide sind deutlich von einer klassizistischen Kunstauffassung geprägt, mit der zumindest die moderne Kunst und Literatur (mit Stilmitteln der Diskrepanz, der Montage, der Verfremdung usw.) nicht mehr zu fassen ist.

© JZ

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