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Ehebruchroman

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Obwohl der Begriff "Ehebruch" semantisch nicht zwischen 'weiblichem' oder 'männlichem' Ehebruch differenziert, wird der Ehebruch der verheirateten Frau literarisch viel häufiger und in einer weiten Bandbreite - von tragischen bis zu komischen Varianten - dargestellt. Als eigenständiger, thematisch bestimmter Typus des Romans wird der Ehebruchroman durch ein festes Handlungsschema (Werbung, Verführung, Entdeckung, Bestrafung) und eine typische Figurenkonstellation geprägt. Auch die sozialen und konventionellen Hindernisse sowie die Spannung schaffenden Intrigen und Lügen sind typische Strukturelemente des Ehebruchromans.

Weite Verbreitung und teils skandalöses Aufsehen erlangte der Ehebruchroman in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Nationalliteraturen. Mit Gustave Flauberts Madame Bovary (1856) in Frankreich, Lew N. Tolstois Anna Karenina (1875-77) in Russland, José Maria Eça de Queirós' Der Vetter Basílio (1878) in Portugal, Claríns La Regenta (1884/85) in Spanien, Theodor Fontanes Effi Briest (1894/5) in Deutschland etabliert er sich als wahrhaft europäisches Genre. Ohne Madame Bovary ihren innovativen Charakter absprechen zu wollen, zeigt der Erfolg dieser literarischen Thematik doch grundsätzlich, dass der Ehebruchroman im 19. Jh eine bevorzugte Form des Zeit- und Gesellschaftsromans ist. Dies mag sich auch daraus erklären, daß er ein besonderes Interesse für die weibliche Figur in ihren sozialen, psychologischen, moralischen und sogar physiologischen Aspekten entwickelt, - Fragen, die damals im philosophischen wie im juristischen, im politischen und religiösen Diskurs höchst aktuell waren (und die mehrheitlich weibliche Romanleserschaft besonders betrafen).

Die dominierende ("personale") Perspektive der weiblichen Hauptfigur, die Flaubert als erster einsetzt, ist Kennzeichen des realistischen Ehebruchromans. In dieser Sicht werden Gründe für die Entfremdung der Ehepartner und den Ehebruch gezeigt: die bürgerliche Ehe erscheint in der Tradition der Vernunftehen, die eingeschränkte Rolle der Frau in der Familie, ihre mangelhafte Ausbildung und ihre soziale Diskriminierung werden kritisch dargestellt. Gleichzeitig wird die bürgerliche Doppelmoral entlarvt, die dem Mann in der Sexualität alles erlaubt und der Frau alles verbietet. Die Gründe für den Ehebruch verweisen auf soziale Langeweile, Abenteuerdrang und den provozierten Bruch mit der Moral, während die leidenschaftliche Liebe als Motiv meist ausgeschlossen bleibt.

Der Liebhaber, der als Figur ebenso wie der Ehemann stark funktionalisiert ist, trägt Züge des dämonischem Verführers (Don Juan) und bedeutet für die Ehebrecherin regelmäßig eine herbe Enttäuschung. Die verführte und bald darauf verlassene Frau sieht in ihrem Leidensweg zumeist auch die Sühne für ihre Schuld. Darin artikuliert sich das Doppelmotiv der Bestrafung (von Ehefrau und Verführer) und der Wiederherstellung der (männlichen) "Ehre", das in manchen sozialen Gruppen (z.B. im preußischen Adel) auch zum Duell führen kann. Auffällig ist, dass die Ehebrecherin des 19. Jahrhunderts nicht aus enttäuschter Liebe stirbt oder wegen der Rache ihres Ehemanns, sondern auf Grund von Situationen, in denen ihre persönliche und psychische Not mit den sozialen Ursachen konvergiert, die eine bereits erschütterte bürgerliche Gesellschaft hervor bringt.

Charakteristisch für die Ehebruchromane des 19. Jahrhunderts ist die vorsichtige Rezeption durch die Leserschaft. Sie reagiert mit Mißtrauen auf Texte, die im Sinne des Realismus und Naturalismus sowohl die soziopsychologischen Gründe für den Ehebruch als auch sehr intime Szenen darstellen, ohne dass der Erzähler dies moralisierend bewertet.

Literaturgeschichtlich erscheint der realistische Ehebruchroman als Gipfel einer Entwicklung, die thematisch bis in die Antike zurückreicht. Dort kann das Ehebruch-Thema sowohl tragische (Geschichte von Atreus und Agamemnon) als auch komische Züge (Mythos von Hephaistos, Aphrodite und Ares) annehmen. Im Mittelalter ist die Liebeslyrik der verheirateten Frau gewidmet, was zumindest theoretisch die Akzeptanz des Ehebruchs impliziert. Im höfischen Roman der klassischen Periode führt die minne jedoch zur Ehe und nicht zum Ehebruch. Trotzdem sind die bekanntesten mittelalterlichen Geschichten Ehebruchgeschichten (Tristan und Isolde und Lancelot und Gweniver; die Episode von Paolo und Francesca in Dantes Göttlicher Komödie). In der Renaissance erscheint eine Novellistik mit realistischen Zügen, die einem breiten und bürgerlichen Publikum gewidmet ist, wobei der Ehebruch zu mehr oder weniger komischen und deftigen Begebenheiten führt (Boccaccio, Chaucer). Seit dem 16. Jahrhundert ist die Ehebruchthematik auf dem Theater besonders produktiv (Lope de Vega, Calderon, Tirso de Molina, Shakespeare, Molière). In der Aufklärung führt der optimistische Glaube an die Vernunft und die Idee der Ehe als nützliche Institution dazu, dass der Roman zum Lob der Ehe tendiert (z. B. Gellert, Das Leben der schwedischen Gräfin von G...). Im Gegensatz zur moralisierenden englischen Literatur kann man in Frankreich bis Ende des 18. Jahrhunderts eine Betonung der erotischen Dimension feststellen. Dies führt zu wachsenden Sensualismus und thematischen Konstellationen, die sich der Moral widersetzen und bei denen der Ehebruch üblich ist (z.B. Laclos: Gefährliche Liebschaften).

©TO

Sekundärliteratur

  • M.T.M.de Oliveira: A Mulher e o Adultério nos romances "O Primo Basilio" de Eça de Queirós e "Effi Briest" de Theodor Fontane, Coimbra 2000.
  • P. von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München 1989.
  • N. White / N. Segal (Hg.): Scarlet letters. Fictions of Adultery from Antiquity to the 1990s, London 1997.