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* 1930, Paris

Literaturtheoretiker

Wer sich erst einmal in das Universum von Genettes Arbeiten begeben hat, kommt so schnell nicht wieder heraus. Er / sie stößt auf grundlegende literaturtheoretische Fragen wie: Was macht einen fiktionalen Text aus? (vgl. Fiktionale und faktuale Texte) Wie funktioniert ein solcher Text? Welche Beziehungen unterhält er zu anderen Texten?

Der Frage nach dem Status des literarischen Textes und der Unterscheidung zwischen Fiktion und Tatsachenbericht ist Genette vor allem in Fiction et Diction nachgegangen. Die größte Breitenwirkung hat jedoch sein zentraler Beitrag zur Erzählforschung (Narratologie) erlangt. In den Abhandlungen Discours du récit und Nouveau discours du récit entfaltet Genette seine Kategorien zur Erzähltextanalyse. Dabei folgt er einem strukturalistischen Ansatz, der seit Mitte der sechziger Jahre in Frankreich die literaturtheoretische Diskussion bestimmt hat. Er stellt Fragen der inhaltlichen Interpretation zurück und konzentriert sich auf die formale Verfassung der Texte. Das ist nicht unbedingt eine Einschränkung, kann doch die "Ansicht von der Welt", wie Genette formuliert, "auch eine Frage des Stils und der Technik sein." (vgl. Zeitstruktur bei Genette, Stimme des Erzählers, Fokalisierungstypen)

Mit der 'Transtextualität' hat Genette (in Palimpsestes) einen Oberbegriff geschaffen, der verschiedene Beziehungen umfaßt, die über den manifesten Text hinausweisen (vgl. Intertextualität nach Gérard Genette). Im einzelnen unterscheidet er zwischen 'Intertextualität' im engeren Sinne (das Zitat und andere Formen der punktuellen Bezugnahme auf vorangehende Texte), 'Hypertextualität' (die stilistische oder thematische Umformung kompletter Texte), 'Metatextualität' (literaturwissenschaftliche oder -kritische Kommentare), 'Paratextualität' (was "das Buch zum Buch macht", also Titel, Motti, Vor- und Nachworte, der Schutzumschlag usw.) und 'Architextualität' (die Bezüge zu einer übergreifenden Kategorie, zum Beispiel einer Gattung, in die ein Text sich einschreibt).

Die erste Begegnung mit dieser Begrifflichkeit kann sicherlich Befremden auslösen. Genette hat - vor allem für seine Erzähltextanalyse - ein begriffliches Instrumentarium entwickelt, das fast wie eine Fremdsprache erlernt sein will. Hat man jedoch die ersten Lektionen seines Greco-Französisch (mit 'Analepsen', 'Prolepsen', 'Homodiegetizität' usw.) hinter sich, dann überzeugt die stringente Logik der Terminologie. Ihre außerordentliche Trennschärfe hat dazu geführt, daß sie sich in der internationalen Erzählforschung als Standard-Vokabular weitgehend durchgesetzt hat.

Auch wenn Genettes Systematik nicht jede Erscheinung der literarischen Praxis eindeutig definieren kann, so stellt sie doch ein Raster bereit, mit dessen Hilfe Sachverhalte und Probleme näher bestimmt und genauer eingegrenzt werden können. Für seine Arbeit ist kennzeichnend, daß er gewonnene Erkenntnisse nie als letzte Wahrheiten betrachtet. Das Arsenal der Beschreibungs- und Analysemethoden hat für ihn operativen Wert: eine Theorie muß nicht buchstabengetreu gehandhabt werden, sondern darf (ja muß) den praktischen Bedürfnissen gemäß abgewandelt, weiterentwickelt oder auch verabschiedet werden. Neben diesem "wissenschaftlichen Pragmatismus" zeichnet Genette aus, daß er die "trockene" formale Analyse mit einer kräftigen Prise Humor und Selbstironie würzt - eine in der (Literatur-) Wissenschaft nicht eben verbreitete Gabe, die vor allem dem Lesenden zugute kommt. Wann schmunzelt man schon bei der Lektüre wissenschaftlicher Texte?

Genettes Arbeiten sind dem deutschsprachigen Publikum erst in den letzten zehn Jahren in einem breiteren Umfang bekannt geworden; auch weil die germanistische Literaturwissenschaft sich in den siebziger Jahren mit Konzepten der Sozialgeschichte und Ideologiekritik von der langen Vorherrschaft der werkimmanenten Interpretation erholte und Genettes formale Analysemethoden nur schwer Interesse finden konnten. Mittlerweile hat sich jedoch eine respektable Fan-Gemeinde gebildet, die die "Mischung von Rationalität und ésprit" (J. Vogt) durchaus zu schätzen weiß.

Genette war Professor für französische Literatur an der Sorbonne und ist bis heute Forschungsdirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Gemeinsam mit Tzvetan Todorov und Hélène Cixous gibt er die renommierte Zeitschrift Poétique heraus.

© SR

Wichtige Schriften

Sekundärliteratur