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Bertolt Brecht: Radiotheorie (um 1930)

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Eine "Theorie des Radios" im Sinne eines umfassenden, in sich geschlossenen Denkmodells hat Brecht nicht verfasst. Seine so genannte "Radiotheorie" besteht aus wenigen kleineren Schriften zum Thema Rundfunk sowie aus praktischen (experimentellen) Rundfunkarbeiten. Doch hat sich ihr Innovationswert bis heute in der Debatte gehalten.

Grundlage dafür bilden die beiden wegweisenden Schriften Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks (1932/33) und Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks (1928/29). Hinzu kommen der Aufsatz Radio - eine vorsintflutliche Erfindung? (1927/28) sowie das Hörstück Der Flug der Lindberghs. Ein Radiolehrstück für Knaben und Mädchen (1929). - Im Kontext seiner Theorie vom Epischen Theater und seiner Lehrstück-Arbeit versteht Brecht den Rundfunk als ein Medium, welches die aktive Mitarbeit und Einbindung der Rezipienten möglich und nötig macht und sie damit selbst zu Produzenten werden lässt.

Brecht stellt fest, daß das Radio nicht aus gesellschaftlicher Notwendigkeit, sondern als Zufallsprodukt entstanden sei. Ablesen könne man dies an der beliebigen Gestaltung des Rundfunkprogramms, etwa auch an den aus anderen Kulturbereichen transformierten Publikationsformen (Vortrag, Konzert). Gerade in den Anfängen ist das Radio ein Demonstrationsobjekt der Bourgeoisie, die ihre eigene Dummheit darin zur Schau stelle. "Ein Mann, der etwas zu sagen hat, und keine Zuhörer findet, ist schlimm dran. Noch schlimmer sind Zuhörer dran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat."

Folglich ist es Brechts Anliegen, den Rundfunk so zu demokratisieren, daß "das Publikum nicht nur belehrt [wird], sondern auch belehren muß". Zu diesem Ziel soll ein Hörfunk geschaffen werden, der nicht nur sendet, sondern auch empfängt; und die Hörer sollen sich bei Bedarf in 'Sender' verwandeln können. "Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, d.h., er würde es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müßte demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren."

Nicht zuletzt verbindet Brecht mit der von ihm geforderten technisch-organisatorischen Umstrukturierung des Rundfunks einen revolutionären politischen Impetus: "Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen, dienen die Vorschläge, welche doch nur eine natürliche Konsequenz der technischen Entwicklung bilden, der Propagierung und Formung dieser anderen Ordnung." Brechts so genannte Radiotheorie ist exemplarischer Teil seines kulturrevolutionären Konzepts. Sie standen in den zwanziger Jahren im Kontext verschiedener Versuche, den "eingreifenden" Charakter der Kunst und der Medien zu stärken (Walter Benjamin, John Heartfield, Erwin Piscator, Hanns Eisler). Doch hatten seine Vorschläge kaum Einfluss auf die Organisation des Rundfunkbetriebs oder die Sendeformen und gerieten bald in Vergessenheit. Die Rundfunkpolitik der Nationalsozialisten ging bekanntlich den entgegengesetzten Weg der suggestiven Massenpropaganda.

Erst 1970 machte Hans Magnus Enzensberger in seinem Aufsatz Baukasten zu einer Theorie der Medien (in: Kursbuch 20) wieder auf Brechts Ideen aufmerksam, die er im Blick auf eine fortgeschrittene Mediensituation weiterentwickeln will. Etwa zur gleichen Zeit knüpft das so genannte O-Ton-Hörspiel an Brechts Radiotheorie an und versucht Einzelnen oder Gesellschaftsgruppen eine Stimme zu geben, die sonst nicht öffentlich zu Wort kommen. Brechts Forderung nach der Verwandlung des Distributionsapparates in einen Kommunikationsapparat wurde damit fast ein halbes Jahrhundert später zumindest partiell eingelöst.

© HKö

Quelle

  • Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks; Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks; Radio - eine vorsintflutliche Erfindung? Alle in: Werke, Bd. 21, Schriften I, Berlin u.a. 1989. - Der Flug der Lindberghs. Ein Radiolehrstück für Knaben und Mädchen, in: Werke, Bd.3, Stücke III, Berlin u.a. 1989.