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Als 'metafiktional' bezeichnet Patricia Waugh "fiktionale Erzähltexte, die selbstreflexiv und systematisch die Aufmerksamkeit auf ihren Status als Artefakte lenken, um damit die Beziehung zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu problematisieren." (Waugh, S. 2) Häufig werden in diesen Texten die narrativen Konventionen bewußt durchbrochen, um die Illusion einer geschlossenen fiktiven Welt zu zerstören und ihre Künstlichkeit, ihr Gemachtsein zur Schau zu stellen (vgl. Mimesis). An sich ist dieses Verfahren schon sehr alt, wie ein Blick in Miguel de Cervantes' Don Quijote (1605-15) oder Laurence Sternes Tristam Shandy (1759-67) zeigt. Allerdings ist seine Bedeutung im sogenannten postmodernen Roman (wie Umberto Ecos Der Name der Rose von 1980) enorm angewachsen.

In technischer Hinsicht läßt sich das Phänomen als eine Vermischung verschiedener narrativer Ebenen erhellen. Genauer: Die Grenzen, die der Autor mit dem Leser im Rahmen eines 'Fiktionsvertrages' (vgl. fiktionale und faktuale Texte) festlegt, und die üblicherweise als undurchlässig gelten, werden überschritten - und zwar in verschiedene Richtungen.

Jeder Erzähltext erschafft ein räumlich-zeitliches Universum, in dem sich die Geschichte abspielt. Dieses Universum wird auch als 'Diegese' bezeichnet. Wenn nun innerhalb einer Erzählung ein zweiter Erzähler mit einer separaten Geschichte zu Wort kommt, haben wir es schon mit zwei 'Diegesen' und einer zweiten Erzählebene zu tun. Die zweite wird dabei von der ersten eingeschlossen.(Das sagt noch nichts über ihren verschiedenen Stellenwert aus - die 'innere', die 'Binnenerzählung', kann weitaus wichtiger sein als die dazugehörige 'äußere', die 'Rahmenerzählung'). Diese Verschachtelung läßt sich - theoretisch - bis ins Unendliche fortsetzen. Wo also eine Erzählung eine zweite hervorbringt, spricht Gérard Genette von 'metadiegetischer' Erzählung.

Solange beide Universen säuberlich getrennt sind, ergeben sich daraus auch keinerlei Probleme. Verwirrungen verschiedenster Art treten erst auf, wenn die Grenzen zwischen ihnen durchlässig werden. Das geschieht z.B. in Michael Endes Unendlicher Geschichte. Hier wird der Leser Bastian in die Geschehnisse eines Buches hineingezogen, in dem er gerade liest. Von seinem ersten 'diegetischen' Universum, das er als Leser bewohnt, wechselt er in das zweite, nämlich das, von dem er liest. Der Übergang zwischen diesen zwei Ebenen wird häufig nicht einmal eigens angezeigt. (In der Unendlichen Geschichte sind die beiden Welten durch verschiedenfarbigen Druck voneinander abgesetzt.) In der Erzählung Park ohne Ende des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar findet eine Bewegung in die Gegenrichtung statt: Ein Mann, der im Sessel sitzend ein Buch liest, wird von einer Figur ermordet, die aus eben diesem Buch - und damit ihrem angestammten 'diegetischen' Universum - heraussteigt.

Diese vielfältigen Grenzüberschreitungen bezeichnet Genette als 'Metalepsen'. Allesamt sind sie dadurch gekennzeichnet, daß eine Schwelle überschritten wird, nämlich die "bewegliche, aber heilige Grenze zwischen zwei Welten: zwischen der, in der man erzählt, und der, von der erzählt wird". (Genette, S. 168f.) Natürlich müssen diese 'metafiktionalen' Verfahren nicht zwischen zwei Buchdeckel eingesperrt bleiben. Der italienische Erzähler Italo Calvino entzündet in seinem Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht ein regelrechtes 'metafiktionales' Feuerwerk. Es beginnt mit den Worten: "Du schickst dich an, den neuen Roman ´Wenn ein Reisender in einer Winternacht´ von Italo Calvino zu lesen." Er läßt also nicht nur Figuren innerhalb eines Buches Grenzen überschreiten, sondern bezieht den realen Leser und den realen Autor mit ein. Neben vielen spielerischen und märchenhaft-phantastischen Effekten läßt 'Metafiktionalität' auch die klare Trennung zwischen realer und fiktiver Welt fragwürdig erscheinen. Selbstverständlich bleiben 'metafiktionale' Verfahren nicht auf die Literatur beschränkt. In Peter Weirs Film The Truman Show (1998) lebt die Figur Truman - lange Zeit ohne es zu wissen - in einem eigens für ihn eingerichteten gigantischen Fernsehstudio, dessen Kameras ständig auf ihn gerichtet sind. Tatsächlich ist er der Protagonist eines 24-Stunden-Fernsehprogramms, das in alle Welt ausgestrahlt wird. Erst am Ende wird er sich seiner Scheinwelt bewußt und es gelingt ihm, die Grenze zur Realität, eine Betonkulisse, zu überwinden. Während es hier noch zweifelsfrei eine 'reale' Welt jenseits der Fiktion gibt, wird diese Sicherheit in der Literatur dagegen öfters verweigert. (z.B. in den Texten des Argentiniers Jorge Luis Borges)

© SR

Quelle

  • Gérad Genette: Die Erzählung, hg. v. J. Vogt, München 1994.
  • Patricia Waugh: Metafiction. The theory and practice of Self-Conscious Fiction, London u.a. 1984.