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Bertolt Brecht: Die Lyrik als Ausdruck (1927)

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Gegen das traditionelle Verständnis von Gedichten als reinem Ausdruck des Gefühls wendet sich Brecht schon in seinem 1927 entstandenen kurzen Text Die Lyrik als Ausdruck. Brecht kritisiert eine rein ästhetizistische Rezeption von Gedichten, die das Gedicht ausschließlich als schönes Kunstwerk betrachtet und damit seinen Wirklichkeitsbezug negiert. Wie jede Form des Ausdrucks sei aber auch das Gedicht nicht nur Sprache, sondern auch Handlung. In diesem Gedanken leuchtet schon Brechts spätere Konzeption einer engagierten, "eingreifenden" Lyrik auf.

Wenn man die Lyrik als Ausdruck bezeichnet, muß man wissen, daß eine solche Bezeichnung einseitig ist. Da drücken sich Individuen aus, da drücken sich Klassen aus, da haben Zeitalter ihren Ausdruck gefunden und Leidenschaften, am Ende drückt 'der Mensch schlechthin' sich aus. Wenn die Bankleute sich zueinander ausdrücken oder die Politiker, dann weiß man, daß sie dabei handeln; selbst wenn der Kranke seinen Schmerz ausdrückt, gibt er dem Arzt oder den Umstehenden noch Fingerzeige damit, handelt also auch, aber von den Lyrikern meint man, sie gäben nur noch den reinen Ausdruck, so, daß ihr Handeln eben nur im Ausdrücken besteht und ihre Absicht nur sein kann, sich auszudrücken. Stößt man auf Dokumente, die beweisen, daß der oder jener Lyriker gekämpft hat wie andere Leute, wenn auch in seiner Weise, so sagt man, ja, in dieser Lyrik drücke sich eben der Kampf aus. Man sagt auch, der oder jener Dichter hat Schlimmes erlebt, aber sein Leiden hat einen schönen Ausdruck gefunden, insofern kann man sich bei seinen Leiden bedanken, sie haben etwas zuwege gebracht, sie haben ihn gut ausgedrückt. Als er sie formulierte, hat er seine Leiden verwertet, sie wohl auch zum Teil gemildert. Die Leiden sind vergangen, die Gedichte sind geblieben, sagt man pfiffig und reibt sich die Hände. Aber wie, wenn die Leiden nicht vergangen sind? Wenn sie ebenfalls geblieben sind, wenn nicht für den Mann, der gesungen hat, so doch für die, welche nicht singen können? Aber dann gibt es noch andere Gedichte, die etwa einen Regentag schildern oder ein Tulpenfeld, und sie lesend oder hörend verfällt man in die Stimmung, welche durch Regentage und Tulpenfelder hervorgerufen wird, d.h., selbst wenn man Regentage und Tulpenfelder ohne Stimmung betrachtet, gerät man durch die Gedichte in diese Stimmungen. Damit aber ist man ein besserer Mensch geworden, ein genußfähigerer, feiner empfindender Mensch, und dies wird sich wohl irgendwie und irgendwann und irgendwo zeigen. (S. 310 f.)

©TvH

Quelle

  • Bertolt Brecht: Lyrik als Ausdruck, in: Lyriktheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart, hg. v. Ludwig Völker, Stuttgart 1990.