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Lessings Miß Sara Sampson gilt als erstes Bürgerliches Trauerspiel Deutschlands. In ihm drückt sich das selbstbewußte Bürgertum der Aufklärung aus. Traditionelle, am Vorbild des Adels orientierte Formen des sozialen Miteinanders werden durch bürgerliche Ideale ersetzt. Familie, Tugend, Gefühl, Moral und Verdienst stehen fortan im Mittelpunkt. Der Mensch wird zu dem, was er aus eigener Kraft erreicht, z.B. durch tugendhaftes Verhalten. Es gibt kein Geburtsrecht mehr, die Ränke und Intrigen des Hofes gelten als verabscheuungswürdig. Trotzdem bleibt der Bürger von einer Welt umgeben, in der alte feudale Vorstellungen noch eine große Rolle spielen. Lessing zeigt in Miß Sara Sampson eine menschliche Tragödie, die sich aus diesem Zusammenstoß der alten höfischen mit der neuen bürgerlichen Welt ergibt.

Der Schauplatz des Geschehens ist England. Der genußsüchtige, an das höfische Leben gewöhnte Libertin Mellefont lernt die tugendhafte Miß Sara Sampson kennen und lieben. Er entführt sie aus ihrem Elternhaus, um sie in Frankreich zu ehelichen. Aber die beiden werden in einem Gasthaus auf englischem Boden aufgehalten. Mellefont erwartet noch eine große Erbschaft. Er sieht sich gezwungen, seine endgültige Abreise zu verschieben. Für Sara ist dieser Zustand unerträglich, denn sie lebt mit Mellefont in einer Gemeinschaft, die ihre Tugend gefährdet - die Tugend, in die sich Mellefont ja gerade verliebt hat, und die seinen Charakter verändert hat. Sara fühlt die Verletzung der Diskursregeln. Sie ist einem Modell von Liebe und Ehe verpflichtet, das Sexualität nur innerhalb der Ehe zuläßt. Sie ist die Vertreterin einer tugendhaften geistigen Liebe, die in der empfindsamen Liebesehe gipfelt. Die Konfrontation mit den Forderungen einer sinnlichen Liebe - zudem vor der geplanten Eheschließung - stürzt sie in die schrecklichsten inneren Konflikte. Sie braucht die christliche Zeremonie, denn in ihr liege "eine nähere Einwilligung des Himmels". (S. 12)

Aber es sind nicht nur diese inneren Konflikte, welche das Paar gefährden. Die ehemalige Geliebte Mellefonts, die Marwood, ist den beiden Liebenden auf der Spur, sie will den Treulosen zurückgewinnen. Als sie in einem Brief an Mellefont von Liebe schreibt, stößt dieser hervor: "Die Liebe? Frevlerin! Du entheiligtest Namen, die nur der Tugend geweiht sind!" (S. 18) Seine vergangene Liebe zu Marwood, die er damals Liebe nannte, stand unter einem anderen Zeichen als seine Liebe zu Sara. Sie hatte sich der Sinnlichkeit untergeordnet. Diese Liebe wird mit Begriffen wie "Feuer", "Inbrunst", "Hitze", "Fieber" und "Genuß" (S.24) belegt und wird durch einen optischen Reiz ausgelöst. Dies betont auch die Marwood, wenn sie in einem Gespräch mit ihrem Kammermädchen Hanna zugibt, daß nur der Genuß Mellefont an ihre Seite gefesselt habe. Ein Genuß, der durchaus vorübergehend ist, denn er verschwindet "mit derjenigen Anmut [...], welche die Hand der Zeit unmerklich, aber gewiß, aus unsern Gesichtern verlöscht". (S.21) Mellefont, der von der tugendhaften Sara gelernt hat, zwischen wahrer Liebe und reiner Wollust, die sich an der äußeren Schönheit der Geliebten entzündet, zu unterscheiden, erklärt der Verschmähten, daß sie sich keine Hoffnungen machen solle. Denn eine Liebe, die sich an der Tugend und an den Verdiensten des geliebten Gegenstandes entflammt, ist nicht von kurzer Dauer. Die inneren Werte eines Menschen sind nicht dem Zahn der Zeit ausgeliefert, sie haben noch nach Jahren und Jahrzehnten Bestand und damit auch die Liebe.

Aber die ehemalige Geliebte will nicht aufgeben und überredet Mellefont, ein Gespräch mit Sara zu gestatten. Sie gibt sich als jemand anderes aus und trifft mit Sara zusammen. Im Verlauf des dramatischen Dialogs, in dem sie versucht, Mellefont Sara zu entfremden, gibt sie ihre Identität preis und versetzt die Medizin der ohnmächtigen Nebenbuhlerin mit Gift. Sara trinkt die todbringende Substanz und macht sterbend ihren Frieden mit ihrem Vater. Dieser war schon längst im Gasthaus angekommen und hatte ihr verziehen. Auch sie verzeiht Mellefont und selbst ihrer Mörderin. Ihr geliebter Entführer ist verzweifelt, das Angebot Sir William Sampsons, ihn an Sohnes statt anzunehmen, muß er ausschlagen. Erst als er den Dolch in seine Brust stößt, um seine Schuld zu sühnen, ergreift er sterbend dessen Hand: "Wollen Sie mich nun Ihren Sohn nennen, Sir, und mir als diesem die Hand drücken, so sterb ich zufrieden." (S. 93) Was die Welt Sara und Mellefont nicht geben konnte, eine ewige Verbindung ihrer beider Leben, gibt ihnen Saras Vater im Tod: Ein gemeinsames Grab, in dem die Geliebten endgültig miteinander vereint sind.

In Miß Sara Sampson handeln alltägliche Menschen, "Bürger" (auch wenn sie von rechtswegen adelig sind), die für ihre eigenen Handlungen verantwortlich sind. Nicht ein unabwendbares Schicksal führt sie ins Verderben, sondern ihre eigenen Entscheidungen geben den Ausschlag, die den wirklichen Gegebenheiten zu wenig gerecht werden. Das bürgerliche Publikum bei der Uraufführung war gerührt und gebannt: "Die Zuschauer haben drei und eine halbe Stunde zugehört, stille gesessen wie Statuen, und geweint", schreibt Rammler am 27. Juli an seinen Freund Gleim. Lessings Archetyp eines bürgerlichen Trauerspiels wird zu einer Sternstunde der Empfindsamkeit. Die tränenreichen Gefühlsausbrüche auf der Bühne treffen auf tränenreiches Mitleid im Zuschauerraum.

© rein

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