Literatursemiotik

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auch: Literatursemiologie, von gr. sema = Zeichen

Semiotik ist die Wissenschaft von den Zeichen, Zeichensystemen und Zeichenprozessen. Die Literatursemiotik betrachtet demgemäß literarische Texte als selbstreferentielle Zeichensysteme, deren Strukturen und Codes sie analysiert. Sie liefert in methodischer Hinsicht Beiträge zur literarischen Textanalyse sowie in theoretischer Perspektive zur Frage nach den ästhetischen Merkmalen von Literatur.

Vertreter der Literatursemiotik werden teilweise auch den Strukturalisten oder Formalisten zugerechnet; eine exakte wissenschaftsgeschichtliche Abgrenzung zu ihren Ursprüngen fällt daher schwer. Die literatursemiotischen Ansätze sind zudem sehr unterschiedlich: Roland Barthes vertritt eine poststrukturalistische Position, von der aus er die Vieldeutigkeit eines Werkes betont, während Umberto Eco Barthes‘ Vorstellung einer grenzenlosen Offenheit der Bedeutung literarischer Werke korrigiert und die Rezeption literarischer Texte als Wechselspiel von Freiheit und Determiniertheit darstellt: Einerseits muß der Text eine Struktur aufweisen, sonst "gäbe es keine Kommunikation, sondern nur eine rein zufällige Stimulierung von aleatorischen Reaktionen" (Eco, S. 155). Andererseits entscheidet der Leser, welche Codes und welchen semantischen Rahmen er auf den Text anwenden soll, wodurch er im Verlauf seines Lektüreprozesses die weitere Aktualisierung von Bedeutungen maßgeblich beeinflußt.

Dem gegenüber stehen Ansätze in der Tradition des Strukturalisten Algirdas J. Greimas, der über die Analyse der verschiedenen bedeutungstragenden, hierarchisch organisierten Ebenen eines Textes eine semantische Tiefenstruktur eindeutig rekonstruieren will.

Es scheint trotz dieser Vielfalt einen Konsens darüber zu geben, daß ästhetische Objekte Zeichensysteme sind, die sich eines anderen Zeichensystems als Trägersystem, als Form bedienen: Im Fall der Literatur ist dies das überaus komplexe Zeichensystem Sprache. Es ist mithin die Aufgabe des Semiotikers‚ durch die 'Oberfläche' aus Sprachzeichen oder Denotationen hindurch die für die ästhetische Struktur verantwortlichen Konnotationen aufzudecken. Barthes löst in seinen Textanalysen die Textgrenzen auf, weil er die Konnotationen als Verweise der literarischen Zeichen über die Textstruktur hinaus betrachtet. In methodischer Hinsicht stärkere Resonanz finden jedoch solche Ansätze, die in Anlehnung an Greimas und den russischen Semiotiker Juri M. Lotman Konnotationen und andere Strukturen (lexikalische, graphische, metrische, phonologische, aktantielle etc.) textimmanent analysieren. Weil jedes Wort überdeterminiert ist, indem es "durch eine ganze Reihe formaler Strukturen mit mehreren anderen Wörtern" verbunden ist, ist der poetische Text "die komplizierteste Diskursform: Er verdichtet auf kleinstem Raum mehrere Systeme, deren jedes seine eigenen Spannungen, Parallelismen, Wiederholungen und Oppositionen beinhaltet, und von denen jedes ständig alle anderen modifiziert." (Eagleton, S. 81) Als typische literarische Prinzipien werden Konvergenz von Ausdruck und Inhalt, Mehrdeutigkeit, Verfremdung, Selbstreferenz und Rekurrenz genannt. Es hat sich jedoch gezeigt, daß diese Prinzipien weder universal sind noch ausschließlich im Bereich der Literatur gelten: Auch textinterne Widersprüchlichkeiten können ein ästhetisches Prinzip darstellen.

Roland Barthes hat – nicht zuletzt als Konsequenz aus diesen Schwierigkeiten der Literatursemiotik, eine allgemein gültige zeichentheoretische Definition dessen zu leisten, was Literatur sei (Literarizität / Poetizität) – die Grenze zwischen Literatur und Literaturwissenschaft aufgehoben und die Untersuchung derjenigen ästhetischen Erscheinungen gefordert, die sich dem wissenschaftlichen Zugriff entziehen: "Der Semiologe wäre im Grunde ein Künstler: er spielt mit dem Zeichen wie mit einem als solchen erkannten Köder, dessen Verlockung er auskostet, auskosten lassen und begreiflich machen möchte. [...] Die Semiologie [ist demnach] keine Hermeneutik: sie malt mehr, als daß sie nachgräbt." (Leçon/Lektion, S. 59)

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Wichtige Schriften

Sekundärliteratur