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Friedrich Nietzsche

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* 15. 10. 1844, Röcken/Sachsen
† 25. 8. 1900,Weimar

deutscher Philosoph und Schriftsteller

Nietzsche ist weit über die Philosophie hinaus eine der faszinierendsten und zugleich problematischsten Figuren der deutschen Geistesgeschichte: ganz grundsätzlich, weil er wesentliche Konventionen und Denkweisen der europäischen Kultur in Frage stellt; und speziell für die Literaturwissenschaft wegen seiner Grenzgängerei als Autor zwischen Philosophie, Wissenschaft und Dichtung.

Der sächsische Pfarrerssohn besucht das elitäre Gymnasium zu Schulpforta, studiert in Bonn und Leipzig Klassische Philologie und erhält bereits 1869 eine (außerordentliche) Professur an der Universität Basel, als Kollege berühmter Kulturwissenschaftler wie Jacob Burckhardt und Johann Jakob Bachofen. In dieser Zeit entsteht das erste Werk, das (mit einiger Verzögerung) seinen Ruhm begründet Die Geburt der Tragödie (1872) und das zugleich seine frühe Faszination durch die Musikdramen Richard Wagners offenbart. Die Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873/6), vier kultur- und zeitkritische Essays, münden in eine scharfe Abrechnung mit dem Geist des 19. Jahrhunderts im allgemeinen und dem deutschen Kaiserreich im besonderen. Um 1880 verfasst Nietzsche einige Schriften mit radikal aufklärerischer Intention: Menschliches, Allzumenschliches (1878/89), Morgenröte (1881) und Die fröhliche Wissenschaft (1882), in denen er gegen zeitgenössisch überschätzte Figuren und Denkmuster zu Felde zieht und sich den "freien Geistern" zugesellt (auch eine Anspielung darauf, dass er wegen seiner schwachen Gesundheit schon 1879 seine Basler Professur niederlegt und fortan eine Wanderexistenz führt).

Ziel seiner Attacken ist in erster Linie das Christentum in seiner ideologischen wie institutionellen Dimension, das er für die Fesselung des "naturhaften" Empfindens der Menschen verantwortlich macht und als Machtinstrument einer ressentimentgeladenen Kaste entlarvt. Diese Attacken werden - unter der keineswegs neuen, aber sehr plakativen Formel "Gott ist tot" - in Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887) in ihren radikalen Folgen für Ethik und Moral noch schärfer formuliert, wobei auch wichtige Einsichten Sigmund Freuds antizipiert werden.

Nietzsche selbst und seine zeitgenössischen Leser sahen in seiner Schrift Also sprach Zarathustra (1883/4) den Gipfel seines philosophisch-dichterischen Werkes. In Gleichnissen, 'Predigten' und Lebensmaximen, teilweise als Kontrafaktur zu den Evangelien der Bibel angelegt, werden hier Ideen formuliert, die sich bald als besonders popularisierungsfähig, aber auch missverständlich erwiesen: die "ewige Wiederkehr des Gleichen", der "Übermensch", der "Tod Gottes" u.a. (Aus dem gleichen Jahrzehnt stammen auch die Texte, die unter dem Titel Der Wille zur Macht von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster posthum herausgegeben und antisemitisch verfälscht wurden.)

Nietzsche hat, vermutlich aufgrund einer syphilitischen Infektion in seiner Studentenzeit, sein letztes Lebensjahrzehnt unter schweren Anfällen und in zunehmender geistiger Umnachtung verbracht (dieses Motiv übernimmt Thomas Mann in seinem Roman Doktor Faustus [1947] für den avantgardistischen Künstler Adrian Leverkühn). Nietzsches letzte Schriften besiegeln seine Abkehr von Richard Wagner und enden im Jahr vor seinem Tod mit einem letzten kulturkritischen Rundumschlag, der Götzendämmerung (1889).

Der forciert antisystematische Denkstil Nietzsches und seine Neigung zum Aphorismus machen es schwer, sein Denken zu systematisieren. Man kann aber drei Tendenzen bestimmen: erstens eine anthropologisch und psychologisch fundierte Ästhetik mit den zentralen Begriffen des "Dyonisischen" und der Dekadenz; zweitens die Kritik der Moral, die auf verborgene Machtstrukturen zurückgeführt werden; und drittens sein Existentialismus (ein Wort, das Nietzsche allerdings noch nicht kannte!) als Frage nach der menschlichen Existenz unter Wegfall aller normativen Stützen wie Religion, Moral, Tradition. Gegenüber allen Wahrheitsansprüchen nimmt Nietzsche den Standpunkt eines stark relativierenden Perspektivismus ein.

Ausgesprochen "perspektivisch", das heißt vielschichtig und widerspruchsvoll ist auch die Nietzsche-Rezeption verlaufen, in der sich die historischen und ideengeschichtlichen Strömungen des 20. Jahrhunderts niederschlagen und zu vielfachen Deutungen, Missverständnissen und bewussten Manipulationen führen. Literaturwissenschaftlich ist von besonderer Relevanz, dass Nietzsche- nachdem er zu Lebzeiten nur wenigen bekannt war - um und nach 1900 zum zentralen geistigen Erlebnis für eine ganze Generation von deutschsprachigen Autoren wird, die ihrerseits die klassische Moderne prägen: Heinrich und Thomas Mann, Gottfried Benn, Robert Musil, und sogar Bertolt Brecht.

Für den orthodoxen Marxismus treibt Nietzsches Antirationalismus die "Zerstörung der Vernunft" (Georg Lukács, 1955) voran und arbeitet dem Nationalsozialismus vor. Dagegen entdecken ihn am Ende des 20. Jahrhundert insbesondere französische Theoretiker wie Jacques Derrida als radikalen Erkenntniskritiker, als Lehrer des systematischen Verdachts und Vorläufer der Dekonstruktion also, kurz gesagt, wieder einmal als Denker für freie Geister.

©HR

Wichtige Schriften

  • Friedrich Nietzsche: Werke in zwei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta, München 1967.

Sekundärliteratur

  • I. Frenzel: Friedrich Nietzsche in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1966.
  • B. Hillebrand (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur, Tübingen 1978
  • W. Kaufmann: Nietzsche, Darmstadt 1982.